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Meine Damen und Herren
Freunde der Kunst
Liebe Freunde von Carmelo Ciceros Kunst
Eine Zeichnung mit wenigen, sparsamen Strichen:
Ein Mann sitzt in einem Sessel. Er hat die Beine ausgestreckt und hält sich mit
beiden Händen an der Lehne fest. Seine wenigen Haare scheinen von einer Art
Fahrtwind nach hinten getrieben. Eine Zeichnung des französischen Karikaturisten
Chaval, der so mit geistvoll präzisen Konturen den folgenden Untertitel umsetzt:
„Hochbegabter Mann, befähigt, durch die bloße Erdumdrehung einen Eindruck von
Geschwindigkeit zu empfinden.“
Warum ich Ihnen das erzähle? Ich glaube diese Zeichnung hat sehr viel mit der
heutigen Ausstellung von Carmelo Cicero zu tun. Seit über zwanzig Jahren verbindet
uns eine tiefe, großzügige Freundschaft und so hatte ich das Glück, dass ich aus der
Nähe miterleben durfte, wie immer wieder neue Grenzüberschreitungen und
Entgrenzungen über die Jahre seine Arbeiten in immer wieder neuen Zyklen
prägten. So wurde ich gebeten, Ihnen hier zur Eröffnung der großen
Einzelausstellung einige persönliche Beobachtungen und cicer-ironische Reflexionen
als Hintergrund mit auf den Weg zu geben.
Cicero, der Maler, bewegt sich seit über dreißig Jahren in vorwiegend abstrakten
Bildern. In großen Formaten, deren intensive Farben einen eintauchen lassen in eine
elementare Welt von Urkräften. Weite, Tiefe, Sog und aufbrechendes Licht führen
einen über Assoziationen an Feuer, Wasser, Himmel und Horizont zu universellen
Dimensionen. Seine Bilder sind sehr kraftvoll und können ebenso von großer Zartheit
sein, sie sind gegenstandslos und erzählen doch Geschichten. Sie sind eine
Herausforderung für den, der sich auf sie einlässt und lassen doch dem Betrachter
die Deutungshoheit in dessen eigener Bildwelt.
Wenn ich versuche diesen Urgewalten nachzuspüren, lande ich auf Sizilien. Sizilien,
die Lavageborene, vom Meer Umspülte. Hier, auf der Insel, verdichten sich die
Extreme der Naturgewalten und des Wetters auf kleinem Raum.
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Zeigen sich in dürretrockenen Sommern mit flirrender Hitze über den Feldern und mit
verschneiten Gipfeln im Winter. Hoch oben in dieser Berglandschaft ist Cicero
geboren, im kleinen Skiort Isnello. Das Meer hat er erst mit 7 Jahren zum ersten Mal
gesehen. Isnello war das Ende der Welt. Diese Welt war klein, sein Ort zu klein. Die
Insel zu eng. Mit nicht einmal 18 Jahren geht er nach Paris, um erst Jahre später
und nur noch dann und wann auf Besuch zur Insel zurückzukehren.
In den Pariser Jahren nimmt das Leben Tempo auf und gebiert diesen unstillbaren
Hunger nach Kunst. Er reist durch Europa, lernt 5 Sprachen, wird selber
Sprachlehrer. Er entdeckt in den großen Museen die Kunst der Welt und fängt selber
an zu malen. Was vorsichtig beginnt, wird zum Galopp durch die Epochen der
Kunstgeschichte, um sich an den unterschiedlichen Stilen und Techniken zu schulen.
Die Kunsthochschule, auch sie zu eng mit ihrem Akademiebetrieb. Ciceros
Leidenschaft lässt sich nicht zügeln, der kreative Freigeist sucht andere Wege.
Seinen eigenen Stil findet er erstmals mit fast fotorealistischen Bildern von weiten
Himmeln und Landschaften mit diffusen Horizonten, die er mit gezielt platzierten
Gegenständen wie Kissen, Schirmen und leeren Stühlen, entrückt und surreal
verrätselt. Mit dieser vordergründig gefälligen Malerei feierte er große Erfolge, die ihn
über Jahrzehnte hätten weiter tragen können. Doch Carmelo wäre nicht Cicero, wenn
er bei diesem bequemen Weg geblieben wäre. Er negiert den Markt, denn er verkauft
gut, und wagt den radikalen Bruch. Stellt sich der Herausforderung der Abstraktion,
die für ihn bis heute zur ständigen Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen
wird. Ent-deckt die Mehrdeutigkeit von Form und Farbe, malt Rausch und Askese. So
entsteht das erste aus Cicero geborene Thema „CHAOS UND KOSMOS“, es folgt
der Zyklus „FÜLLE UND LEERE“.
Bei der Reflexion über die eigene Arbeit stellte er fest, dass er den RAND
vernachlässigte. Warum? Die Frage konnte nur dahin führen, dass er sich nun dem
Rand besonders widmete und ihn dadurch betonte. Doch die Frage sprengte die
Leinwand. Sie wird philosophisch. Was ist hinter dem Rand? Es wird immer einen
Rand geben. Oder? Aus diesen alltäglichen Fragen im Atelier stößt Cicero auf die
großen Fragen. Und er stellt sich: „Also setze ich mich mit dem Unendlichen
auseinander!“ Was für ein Satz!
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Cicero geht in die TIEFE der Leinwand und entdeckt die SCHICHTEN. Auch dieses
Thema TIEFE führt ins Unendliche. Zum Unsichtbaren. Zu dem, was darunter liegt.
99% liegen darunter. Wir sehen immer nur das Äußere. Also beginnt Cicero selbst zu
schichten, überlagert Leinwände, rollt, versteckt bewusst selbst. Zelebriert
Vielschichtigkeit, die dann immer gerade auch das UNSICHTBARE zum Thema
macht. Und bei allem Ernst der Frage bleibt Leichtigkeit und eine große Spielfreude,
die uns vor Augen führt, wie alles mit allem zusammenhängt. Denn nun malt Cicero
auch die Schichten. Dabei greift er zurück auf seine frühe Kunst des trompe l’oeil,
malt Überlappungen, wo keine sind, versteckt Materialwechsel, wo sie keiner
vermutet, enthüllt, wo er transparente, wehende Vorhänge hinhaucht. Cicero narrt
den Betrachter, er überdeckt, und nur er weiß, was darunter liegt.
Darunter liegt in allen Zyklen das Spiel mit ILLUSION UND WIRKLICHKEIT. Und er
weiß: „Kunst ist Illusion. Ja das ganze Leben ist Illusion“. Das wird besonders auch in
seinen hintergründigen Objekten deutlich. Hier spielt er mit Materialien und Fiktionen.
Dazu nur ein Beispiel (das auch hier in der Vitrine liegt). Was wie ein
zusammengefügtes Stück Holz aussieht, entpuppt sich als komplexe Konzeptkunst.
Es ist ein bemaltes Stück Holz und ein als Holz bemaltes Buch, beide kaum
voneinander zu unterscheiden. Das Unsichtbare ist hier die Geschichte, die das Buch
in sich trägt und die niemand mehr erfahren wird. Die Illusion ist die Bemalung. Die
Wirklichkeit ist das Holz selbst. Durch die Bemalung hat Cicero das Buch aus Papier
wieder zu seinem Ursprung zurückgeführt.
Zurück zu den Schichten, den INFINITE LAYERS. Wenn sich die Schichten aus der
Leinwand lösen und plastisch werden, scheint es nur noch ein logischer Schritt, sie in
der 3. Dimension als Skulptur umzusetzen. Auf eine Anfrage des Kunstvereins
Bremerhaven fertigte Cicero 2009 für das Außengelände des Wilke-Ateliers,
Skulpturen aus Edelstahlblech. Die kalten, starren 2mm Platten werden bei einem
Stahlbauer der Werft zu dynamischen Auffaltungen geformt. Sie scheinen von
Leichtigkeit wie die Biegsamkeit von Papier.
Kleinere Objekte dieser Serie kommen ins Atelier. Und hier beginnt eine neue
Transformation. Hier wird nun die Leinwand zu Metall. Cicero malt die Metallbänder.
Er ist respektlos gegen die Materie. Die breiten Streifen auf der Leinwand erhalten
einen metallischen Glanz und scheinen sich aus der Fläche herauszuheben.
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Besonders deutlich wird es, wenn diese Bilder und die Objekte nah beieinander
stehen. In der Verkehrung ihrer Anmutung ergänzen sie sich zu einem
Gesamteindruck. Die Bilder haben wie die Skulpturen eine große Weichheit und
Zartheit, einen seidigen Schimmer. Sie leugnen den Widerstand des Materials,
heben ihn auf.
Der Blick zu den Horizonten mit dem Thema RAND. In die Tiefe mit den INFINITE
LAYERS. Was nun bleibt ist der Blick nach OBEN. Dieses Oben, das sich auch
wiederum in Schichten auflöst und zu den Galaxien führt.
Der Zyklus ENDLOS entsteht. Das Universum ist ein entgrenzendes Raumerlebnis.
Hier lösen sich Höhen und Tiefen auf, verwirbeln Milliarden Jahre in
Geschwindigkeiten, die die menschliche Vorstellungskraft sprengen. Es bedarf einer
philosophischen Logik, um sich im Großen verlieren zu können. Doch: „Die Logik
verlässt mich total, wenn ich über das Universum und den Kosmos nachdenke“, so
Cicero. „Dann komme ich nicht weiter, mir wird schwindelig und ich muss passen.
Aber malerisch kann ich mich austoben! Dann stürze ich mich ins Chaos und den
Kosmos! Und ich merke, dass ich mit der Kunst weiterkomme als mit dem Verstand.
Da kann ich besser bewältigen, was ich mit dem Denken nicht fassen kann.“ Ohne
Orientierungspunkte wächst auch für Cicero die Bedrohung. Er weiter: „ Dann wird
mir angst und bange. Aber Kunst hat diese andere Dimension. Wie winzig wir sind,
winziger als ein Staubkorn.“ Wie ein Pierrot lunaire, ein Mondetrunkener, ein
Weltraumtaumelnder von Bekett‘scher Verlorenheit erscheint mir dann Cicero. Und
er malt gegen das Chaos an in galaktisch, kosmischen Bildern.
45 Jahre nach der Mondlandung läuft zurzeit das größte Raumfahrtabenteuer dieses
Jahrtausends. Die Raumsonde Rosetta hat nach 10 Jahren den Kometen 67P/C-G
erreicht, der 4 Milliarden Jahre alt ist. In einem interplanetarischen Langstreckenflug
von 770 Millionen km ist die Sonde auf den Kometen zu gerast. Wie ein kosmischer
Paartanz gleiten Sonde und Komet nun gemeinsam durchs Weltall auf die Sonne zu.
Und Rosetta wird all dies dokumentieren. Es ist eine akribisch geplante
Entzauberung. Der Sternenhimmel und das All aber haben sich noch niemals ganz
der menschlichen Vernunft ergeben, bis heute nicht. Das griechische Wort „Kosmos“
bedeutet „geordnete Welt“. Eine ‚himmlische‘ Ordnung, die das Chaos in sich trägt!
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Große Fragen sind immer noch ungelöst, solche, die man sich stellen mag, wenn
man zum Sternenhimmel schaut. So wie damals auch schon der Junge auf Sizilien,
wenn er in den heißen Sommernächten draußen schlief. Unter einem südlich weiten
Sternenzelt, das uns mit seinem Funkeln den Himmel so viel näher wölbt. Wo ist das
Weltall zu Ende? Was erzählen uns die Atome? Welche Kraft zieht in die schwarzen
Löcher? Warum ist nicht Nichts? Wie breitet sich das Universum aus? Wer möchte
nicht einmal fliegen im Weltall, umhüllt von einem großen Schweigen und beleuchtet
vom diffusen Licht der Sterne?
Das Universum stellt sich als eine Ansammlung von mehr als hundert Milliarden
Galaxien in einem gigantischen Ozean dar, dem intergalaktischen Raum. Cicero
empfindet schon allein bei der Vorstellung ein Gefühl von Geschwindigkeit. Doch er
hat Bodenhaftung. Mit konzentrierter Sammlung versprüht er mit großer Kraft die
Sprachlosigkeit und Starre in einen sinnlichen Farbenrausch. Und es sieht aus, als
wäre er schon da gewesen. Cicero: „Es gibt Milliarden von Universen. Das ist ein
Schock! Schwindelerregend! 13,5 Milliarden Jahre rast alles durch das Universum in
größter Geschwindigkeit. Darüber kann man verrückt werden. Wir sind ganz und gar
nichts.“
Doch ist der Mensch nicht der Sternenstaub des Urknalls? Und wo ist dieser Mensch
in Ciceros kosmischer Bilderwelt? Das beste Beispiel ist eine kleine Installation, zu
sehen hier in der Vitrine. Ein Kabinettstück. Eine winzige Figurine, die sich in einer
schützenden Schale dem unendlichen Horizont zuwendet. Da wo sich die
Verlorenheit des einzelnen mit der Unfassbarkeit der Dimensionen mischt und in
einem großen Staunen endet.
Indem man sich auf das Kleine einlässt, findet man das Große: sei es der Wirbel der
Atome, eine Zelle, ein Wassertropfen, das Sandkorn, eine Pupille. Denn der
suchende Blick in die Tiefe ist nicht unbeteiligt. Und in gewisser Weise hat er auch
etwas mit Liebe zu tun. Wie ein tiefer Blick in die Augen eines Menschen einem das
Gefühl geben kann, in neue Horizonte einzutauchen, hinter denen sich unbekannte
Welten öffnen, die dann doch wieder Heimat scheinen. Mit diesem Tiefblick
erschließt sich Cicero die Galaxien in der Höhe. Er malt sich sein Universum.
Die Entwicklung von Ciceros Malerei ist eine Geschichte über das Fragen, das
Wagen - über das sich Aussetzen. Das muss man tun. Und es gibt keine Antworten.
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Das muss man aushalten. Die Fragen führen zu neuen Fragen und wenn auch diese
keine Worte mehr haben - da, wo WIR in Sprachlosigkeit erstarren, - da beginnt
Ciceros Kunst, das geniale Talent, sich ausdrücken zu können, da wo Sprache
versagt. Wer besitzt schon so ein Ausdrucksmittel?
Manchmal fließen die Ideen als Formen in Farben, sind schon im Malen sinnliches
Vergnügen. Ein andermal ist es Kampf, wenn die Vision sich nicht fassen lässt, die
Hand der Vision nicht folgt. Wenn nichts gelingen will. Dann ist Verzweiflung. Es ist
aber gerade diese Verzweiflung, wenn man nichts mehr zu verlieren scheint, die den
Rahmen sprengt und Neues entstehen lässt. Die Bedeutungsladung der Abstraktion
ist ein ständiger Prozess in Auseinandersetzung mit sich selbst.
Am Ende aber ist da ein fertiges Bild! Übermütige Freudensprünge im Atelier! Große
Dankbarkeit erfüllt den Maler und er küsst den Boden. „Durch die Malerei erlebe ich
ein Glück“, so Cicero, „das man mit nichts vergleichen kann. Sie ist mein
Lebenselixier.“
Zum immer weiteren Fragen gehört Mut. Dass dies bei allem Ernst doch nicht auf
eine bewegende Leichtigkeit verzichten muss, macht UNS Mut. Und wir können nur
eins hoffen: um dann doch noch mit Tullius Cicero von vor mehr als 2000 Jahren zu
enden: “Fange nie an aufzuhören, höre nie auf anzufangen.“!
Doch bevor Sie aufstehen, bitte noch eine Minute. Ich kann es mir nicht verkneifen.
Cicero im caesar. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Cicero im caesar. . .
Um dem ganzen zum Schluss noch die Krone aufzusetzen, möchte ich das
symbolische Spiel auf die Spitze treiben und den Kreis zur römischen Antike
schließen. - Mit diesem Lorbeer für dich, lieber Freund.
Und nun lassen Sie sich im caesar auf allen Ebenen in Ciceros Welten entführen.
Stephanie Knoblich
(anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Tiefen und Höhen“, 23.11.2014 caesar, Bonn)