Dr.Heinz Weber, Wilke-Atelier Bremerhaven, Einführung in die Bilderfolge, " infinite layers" von Carmelo Cicero

 

 

Neue Werke Carmelo Ciceros

Der Zyklus ‚infinite layers’

Der Zyklus ‚infinite layers’, den Carmelo Cicero in diesem Katalog vorstellt, stand im Mittelpunkt einer Ausstellung mit neueren Bildern im Kulturforum Dorum an der Nordseeküste. Eröffnet wurde sie am 11. September 2011 vor einem großen, begeisterten Publikum. Die Freude wurde nur getrübt durch die Erinnerung an den 11. September vor 10 Jahren. Das Bewusstsein der Verwundbarkeit unserer Zivilisation lässt uns seither nicht mehr los, auch nicht, wenn wir Kunst betrachten, die wie bei Carmelo Cicero keinen offensichtlichen Bezug zu politischen Ereignissen hat. Dennoch: Vielleicht gibt es auch in den Bildern Ciceros eine tiefe, elementare Ebene, die uns hilft, nicht zu verdrängen, was uns aufgewühlt hat.

Es gibt erfreulich viele Menschen, die nicht zum ersten Mal Bilder von Carmelo Cicero sehen. Bekannt ist er nicht nur im Köln-Bonner Raum, sondern auch in anderen Gegenden Deutschlands, etwa in der Region Bremerhaven, mittlerweile auch in seiner sizilianischen Heimat. Wer diese kraftvollen Bilder jedoch zum ersten Mal sieht, fragt sich, was daran so fasziniert oder Rätsel aufgibt. Ich hoffe, ich kann ein wenig zum Verständnis beitragen, wenn ich skizziere, wie sich das Werk des großen und doch sehr bescheidenen Kölners bis zu den Bildern entwickelt hat, von denen Sie hier eine Auswahl sehen.

 

Ein Alleskönner mit Schwerpunkt Malerei

Carmelo Cicero beschränkt sich nicht auf das Tafelbild. Er hat immer auch, seit er sich für die Existenz als freier Künstler entschieden hat, Skulpturen angefertigt. Meist sind es kleinere Figuren aus unterschiedlichen Materialien. Oft sieht er in Bruchstücken aus Holz, Stein oder Blech gegenständliche Grundformen, die er nur wenig verändert. Oder er verfremdet Holzbrettchen zu Büchern oder Bücher zu Holzbrettern. Auch große Rauminstallationen haben wir schon gesehen, etwa die Wasserfalllandschaft in der ehemaligen Schniederhalle am Neuen Hafen in Bremerhaven während der Expo 2000. Aber man kann sagen, dass die Malerei auf Leinwand, früher mit Öl, heute mit Acryl Ciceros Domäne ist. Dabei gibt es für ihn jedoch keine klaren Genregrenzen. Viele seiner Bilder sind eher Bildkörper, spielen mit Bildern auf Bildern oder hinter Bildern, stülpen das Bildfeld vom Rand her nach außen oder gestalten die malerische Oberfläche als Relief, mal echt, mal als optische Täuschung.

Carmelo Cicero erzählt keine Geschichten. Die malerische Darstellung erkennbarer Motive spielt heute bei ihm nur eine Nebenrolle. Aber er begnügt sich auch nicht mit reiner Malerei oder mit gefälligem l’art pour l’art. Statt dessen wirft er mit seinen künstlerischen Mitteln elementare philosophische Fragen der menschlichen Existenz auf.

 

Die Themen der letzten 20 Jahre

Carmelo Ciceros Werk kreist um die folgenden Themen:

 

Konzeptkunst ja, aber wunderbar sinnliche

In jedem der mehrjährigen Schaffenszyklen variiert der Maler ein Thema konsequent und findet schließlich einen nachvollziehbaren Weg zum nächsten Schritt. Zugleich hängen die Schritte aber miteinander zusammen. Alles hat mit allem zu tun. Und: Alles hat, trotz aller Unerbittlichkeit der thematischen Arbeit, nicht den kleinsten Hauch konzeptioneller Langeweile, sondern ist wunderbare, große Kunst. Die umwerfende ästhetische Präsenz der Bilder ist keine Absage an konzeptionelle Arbeit. Der Künstler will das Konzeptionelle mit dem Sinnlichen versöhnen.

Zunächst habe ich Carmelo Cicero als Maler extrem kraftvoller Bilder kennen gelernt, in denen wir mit elementarer Naturgewalt konfrontiert sind. Dabei zeigt Carmelo nicht irgendeine konkrete Überschwemmung oder einen bestimmten Vulkanausbruch, sondern er macht den bedrohlichen Urzustand der Elemente erahnbar: die brodelnde Ursuppe im charakteristischen Cicero-Feuerrot ebenso wie das alles verschlingende amorphe Grün, den Sog der schwarzen Löcher oder den sich zusammenbrauenden Crash der Atmosphären in Gelb und Blau. Bei aller kaum mehr erträglichen Wucht der Elementarkonflikte leuchtet in diesen Bildern immer auch in irgendeiner Ecke der Trost versöhnender Farbkombination auf. Oft ist es der Rand, der diese versöhnliche Botschaft trägt, der Rand, den der Maler nicht als Grenze respektiert, sondern den er als Teil des mehrdimensionalen Bildkörpers mitnutzt -  als Verweis auf eine Welt jenseits der Bildwelt.

 

Infinite layers: Die Welt hinter der Welt hinter der Welt ...

An einigen der hier gezeigten Bilder aus den letzten 4 Jahren sehen wir, dass Carmelo Cicero dieses Thema nie ganz aufgegeben hat, obwohl er es nun im Rahmen einer veränderten Fragestellung weiter verfolgt. Spätestens seit dem Jahr 2003 wissen wir, dass sich Carmelo nun künstlerisch vor allem für die Frage der Vielschichtigkeit der Realität interessiert. Er baut mehrere Bildtafeln übereinander, hängt einige der Bildgründe zu, durchsticht bei anderen die Oberfläche brutal, faltet Schicht um Schicht auf, legt eine klaffende Wunde frei oder lädt uns ein, in den Tiefenschichten hintereinander gestaffelter Guckkästen verborgene Gegenstände, geheime Türen, unendliche Gänge zu entdecken. Und was befindet sich hinter der untersten angedeuteten Schicht? Das alles hat natürlich mit der Frage zu tun: Was ist wahrer, das, was wir sehen, oder was dahinter liegt? Der Maler gibt keine Antwort, wirft aber die Frage so auf, dass wir uns ihr nicht entziehen können.

Zu dieser Phase gehören auch die Bilder, auf denen der Maler Oberflächen abschält oder aufrollt, also malerisch die erste oder zweite Schicht entfernt, um weitere darunter freizulegen. Wie Carmelo Cicero Bildebenen malerisch aufblättert, abzieht und aufdreht, ist sensationell gekonnt, egal, ob es sich um die Freilegung einer dramatisch roten Welt unter einer erodierenden grünen handelt oder um eine collagierte Zeitung, die sich in vollendeter Illusionsmalerei scheinbar aufblättert, wo sie doch auf der Bildfläche malerisch erzeugt wird. Zum Aufrollen gehört das Lichtspiel des Oben ebenso wie der Schatten des unten. Und dazu gehört auch, was auf vielen der Bilder sichtbar ist, die räumliche Gleichwertigkeit der Schichten: Was Untergrund ist, ist an anderen Stellen Vordergrund. Cicero präsentiert so ganz nebenbei malerisch absurde Räume.

 

Endlosschichten: Rollen Wellen, Strudel

Der folgerichtige nächste Schritt dieser Entwicklung besteht darin, die Schichten hinter den Schichten von Rollen, Wellen und Strudeln freizulegen. In der Werkstatt eines Stahlbauers hat Carmelo Cicero 2009 für das Außengelände des Wilke-Ateliers in Bremerhaven mehrschichtige, gerollte Skulpturen aus glänzendem Edelstahlblech geschaffen. Was wir uns als große Fans seiner Pinselkunst zunächst kaum vorstellen konnten, wurde Wirklichkeit. Aus dem glattkalten Antimaterial  entstanden Kunstwerke, die das Thema der Auffaltung mehrschichtiger Räume überzeugend variierten. Einige Exemplare dieser Skulpturenreihe sind im Kölner Atelier des Künstlers ausgestellt.

In seinem Kölner Atelier hat Carmelo die Idee hinter diesen Skulpturen dann malerisch umgesetzt. Dabei hat er, ganz untypisch, für den Farbauftrag breite Schrubber verwendet und die Farbe dem metallischen Glanz des Edelstahls angenähert. Wollte er demonstrieren, dass er fast gänzlich auf die Oberflächenbehandlung mit einer breiten Palette intensiver Farben und verschiedenster Pinsel verzichten kann, die wir so sehr bewundern? Im Ergebnis haben wir auch hier wieder gerollte mehrschichtige Wirklichkeiten, die oft auch absurde Räume zeigen, in denen  sich etwa das Innere eines Strudels optisch nach außen kehrt oder der Schatten unterhalb der Rollenschicht zum Träger einer höheren Ebene wird. Zur Natur der Rolle gehört, dass sie in der Drehung keinen logischen Anfang, also auch kein Ende hat. Wo der Maler die Rolle auf die Fläche projiziert, ergeben sich absurde Endlosschleifen,

 

Vorsichtige Wiederannäherung an das Frühwerk

In dieser letzten Phase hat Carmelo Cicero offensichtlich wieder auf früher bewunderte Fähigkeiten zurück gegriffen - oder soll ich sagen: er hat sie wieder bei sich zugelassen? Es handelt sich um Kunstfertigkeiten, die dem freien Maler in seiner ersten Phase vor 30 Jahren großen Erfolg gebracht hatten. In den damaligen Bildern hat er mit feinstem Pinsel minutiös gemalte Illusionen erzeugt. Carmelo nutzt seine Präzision heute, um im Bilderzyklus ‚Surfaces’ sein Thema ein weiteres Mal zu variieren. Die Schicht über der Schicht, etwa eine sichtbar aufgelegte zweite Leinwand, an einer Ecke aufgefaltet oder unten aufgeschnürt, erweckt den Eindruck eines zerknüllten Lakens oder einer von oben fotografierten trockenen Hügellandschaft. Die Falten scheinen räumlich, sind aber nur gemalte Oberfläche. Nur wer genau hinsieht, entdeckt die hohe Kunst der Täuschung.

 

Biographische Brüche

Eingeweihte wissen vielleicht, dass Carmelo Cicero, Jahrgang 1948, mit Kunst zunächst gar nichts am Hut hatte, als er in sehr jungen Jahren einen mutigen, radikalen Schritt tat. Er hat sich aus seinem bisherigen Leben in einem sizilianischen Bergdorf verabschiedet, um allein, zunächst für ein paar Monate, dann für lange Zeit nach Paris zu gehen. Er wollte Sprachen lernen, seine zweite große Fähigkeit neben der Malerei, die er sich später eroberte. Die Pariser Museen haben in ihm einen unstillbaren Hunger nach Kunst entfacht. Dann hat er angefangen zu malen, zunächst als Autodidakt, der sich mit jedem gelungenen Pinselstrich immer weniger dem Sog der neuen Leidenschaft entziehen konnte. Später, in Köln, hat er ein Jahr eine Kunstakademie besucht, die brach er aber ab, weil der akademische Betrieb nicht zu ihm passte. Anders jedoch als seine damaligen Kommilitonen konnte er mit Beharrlichkeit und Selbstdisziplin erfolgreich ein Käuferpublikum erobern mit vorwiegend heiteren, fast surreal anmutenden Bildern von Himmeln, Landschaften und Symbolen. In diesen frühen Werken wurde die vordergründige Gegenständlichkeit fast immer durch hochartifiziell gemalte optische Täuschungen verrätselt. Es folgte eine beachtliche Anzahl großer Ausstellungen, Stipendien, Preise und öffentliche Aufkäufe. Selbst im Deutschen Bundestag hängen drei seiner Werke aus der damaligen Zeit.

Möglicherweise hätte das Festhalten am damaligen Stil eine lebenslange Erfolgsgeschichte werden können. Aber irgendwann reichte das dem radikalen Künstler nicht mehr und er vollzog den zweiten großen Bruch. Er wandte sich von seinem bisherigen Werk ab und begann den neuen, abstrakteren, weniger gefälligen, also risikoreicheren Weg der malerischen Annäherung an die Grundprobleme menschlicher Existenz. Mit erstaunlicher Konsequenz hält Carmelo Cicero bis heute an diesem Weg fest, obwohl solche Werke zwar genauso bewundert werden, sich aber weniger gut verkaufen als malerische Kabinettstückchen in heiterem Ton. Heute beobachten wir vor allem in den jüngsten Bildern mit ihren optischen Täuschungen kleine Schritte der Wiederversöhnung der neuen mit der alten Phase. Ernst zu nehmende Kunst kommt vielleicht nicht von Können, aber sie geht auch nicht ohne Können. Und Carmelo kann`s. Ganz ohne Zweifel, wenn ich mir diesen Kalauer erlauben darf.

 

Wenn die dünne Schicht der Zivilisation abgerollt wird

Zum Schluss kehre ich noch einmal kurz an den Anfang zurück. Carmelo Ciceros Arbeiten sind im landläufigen Sinne sicher nicht politisch. Aber sie sind, finde ich, in einem tieferen Sinn realistisch, wenn Realismus denn heißt, die Realität nicht abzubilden, sondern kenntlicher zu machen. Egal ob die Werke nun wuchtig expressiv oder eher technisch brillant sind, sie unterstützen uns dabei, die Tiefenschichten unserer Existenz zu erkennen. Überlegen wir nur einmal kurz: Was käme zum Vorschein, wenn wir zuließen, dass die dünne verletzliche Hautschicht unserer Zivilisation abgerollt wird? Für was stünde dann das glühende Rot, das auf einigen Bildern zum Vorschein kommt? Man muss bei den Wellenmotiven gar nicht konkret an Tsunamis und ihre Folgen denken. Die Angst davor, dass die Hochglanzoberfläche nicht trägt und wir in Schlünde gerissen werden, ist immer da. Oder denken wir an die Tiefenschichten unserer Psyche und an unsere Träume: Sind nicht unsere inneren Bilder, grade in Krisensituationen, oft amorph, chaotisch, brodelnd, extrem mehrschichtig, elementar, absurd und laufen sie nicht in endlosen Schleifen in uns ab?

 

Bilder, die nicht lügen

Natürlich ist diese Kunst nicht realistisch im Sinne einer ästhetischen Stellungnahme zu politischen Gegenwartsereignissen. Wer kann schon die Grausamkeit epochaler Gemeinheiten künstlerisch überzeugend erfassen? Ich habe gehört, dass viele Amerikaner sich 9/11-Tattoos in ihren Körper einritzen lassen, weil sich Bilder ohne schmerzlichen Tiefgang -im Wortsinne- nicht lange genug erinnern lassen. Das mag uns seltsam vorkommen, aber es spitzt die Frage radikal zu: Wie tief müssen Bilder eindringen, wenn sie uns helfen sollen, den Schrecken nicht zu vergessen? Der globale Schrecken kommt heute täglich in hochauflösenden Fernsehbildern life zu uns. Aber je massiver sie auf uns einströmen, desto mehr nähren sie unser abgrundtiefes Misstrauen gegenüber solchen Bildern. Was uns vorgeführt wird, dem können wir nicht mehr trauen. Ist es, wie in der Bildsprache Carmelo Ciceros, ein Berg, ein faltiges Laken oder ist es einfach nur bewusst erzeugte Täuschung? Wir müssen zurecht immerzu fragen, was sich in den Tiefenschichten hinter oder unter den medialen Bildern verbirgt, was sich dort zusammenbraut.

 

Der Künstler und die Welt

Vielleicht unterstützt eine Kunst, die beharrlich das Ziel verfolgt, zu ergründen und sichtbar zu machen, was hinter der Oberfläche der Wirklichkeit liegt, unsere Fähigkeit zu fragen, zu hinter-fragen.

Damit will ich Carmelo Cicero nicht zum politischen Künstler hochstilisieren. Aber ein selbstgenügsamer Purist oder oberflächlicher Popartist ist er nun wirklich nicht. Seine bohrende Fragehaltung und seine offensichtlich nie versiegende Kreativität zeigen bei aller Schönheit und technischen Könnerschaft eine Haltung, die man heute bei so manchen teuren Lieblingen des Kunstmarkts vermisst, nämlich eine unbedingte Selbstverpflichtung zur Conditio Humana, zur Erhellung der Grundbedingungen der menschlichen Existenz. Das klingt jetzt ein wenig hochgestochen, trifft aber, glaube ich, sein Selbstverständnis als Künstler, obwohl er das sicherlich viel bescheidener ausdrücken würde.